„Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe/ so müd geworden, dass er nichts mehr hält./ Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe/ und hinter tausend Stäben keine Welt.“ Mit diesen Versen beginnt das zweifellos berühmteste Gedicht des österreichischen, in Prag geborenen Lyrikers Rainer Maria Rilke (4.12.1875-29.12.1926), das 1903 entstand und das triste Käfigleben eines Panthers im Pariser Jardin des Plantes beschreibt. Generationen von Schülern durften das Werk im Deutschunterricht auswendig lernen und interpretieren. Selbst ausgesprochenen Nicht-Literaten wurde Rilkes „Panther“ ein Begriff, als ein im Besitz von Thomas Gottschalk befindliches Autograph (zum Glück nicht das einzige Stück!) 2018 mit Gottschalks Villa bei Malibu verbrannte. Doch auch Rilke selbst litt wie sein Panther unter vielen Zwängen und tristen Perioden. Seine Kindheit verlief nicht glücklich, eine militärische Ausbildung brach er ab, wechselnde Studiengänge und Frauenkontakte prägten seine frühe Schaffensperiode. Von seiner Frau und seiner kleinen Tochter trennte er sich 1902 nach nur einem Ehejahr, wobei eine Scheidung unterblieb. In Paris fand er bis zum 1. Weltkrieg seine zweite Heimat und war als Dichter, Schriftsteller und Übersetzer überaus aktiv. Anfang 1916 wurde Rilke jedoch vom österreichischen Militär eingezogen, konnte aber nach seiner Grundausbildung im Kriegsarchiv und Pressequartier arbeiten. In diese Zeit fällt ein an die Schauspielerin Lia Rosen (1893-1972) gerichteter eigenhändiger Brief, der samt Originalumschlag erhalten blieb und den wir hier in Auszügen zeigen möchten:
Das an „Fräulein Lia Rosen, Hôtel „Riedhof“, Schlösselgasse, Wohnung No. 6, Wien VIII.“ adressierte Couvert ist mit 5 österreichischen Freimarken der Serie von 1908 mit dem Altersportrait von Kaiser Franz Joseph I. (18.8.1830-21.11.1916; reg. seit 1848) frankiert, und zwar mit 4 Exemplaren der 5 Heller grün sowie 1 Exemplar der 25 H blau, die alle mit dem Wiener Ortsstempel vom 17.3.1916 entwertet sind. Rilke schreibt in seinem Brief, der vom gleichen Tag datiert: „Liebe Lia Rosen, wir sehen uns gar nie, das kommt daher, dass ich immer, nach meinem Amtstag, ohne alle Energie und Expansion bleibe, ich sehe hinaus und sitze mit einem Buch in meiner Sofaecke: das ist das Äußerste, was ich aufbringe, oft nicht einmal das.“ Er schlägt ein persönliches Treffen vor und erkundigt sich nach der Adresse von Frau von Winternitz [1920-1938 mit Stefan Zweig verheiratet], der er für ein Buch den überfälligen Dank aussprechen möchte. Auch kündigt er an, demnächst von Wien-Hietzing „wieder in die Stadt zu ziehen: Die Trambahnen werden jetzt immer voller und das lange Hin- und Herfahren ermüdet mich.“ Rilkes melancholische und resignative Worte sowie seine Klagen über die ermüdende Monotonie der Alltagszwänge passen letztlich auch zum Gitterdasein seines „Panthers“. Noch am 17.3.1916 traf der per Rohrpost versandte und mit „Ihr R.M.Rilke“ unterschriebene Brief bei Lia Rosen ein. - Rilkes Worte „Ohne alle Energie und Expansion“ hätten 1916 übrigens auch gut den Zustand der österreichischen Monarchie und ihrer Armee beschrieben.