Nachdem im Deutsch- Französischen Krieg 1870/71 Paris von den preußischen Belagerungstruppen eingeschlossen war, konnten Briefe ab dem 20.9.1870 nur als Zusatzfracht in den Körben großer Ballone ausgeflogen werden. Diese maximal 4 g „schweren“ und meist kleinen Briefe sind in der Regel dicht beschrieben und trotz ihres interessanten Inhalts wegen der durchscheinenden Schrift der beschriebenen Rückseite äußerst schwer zu lesen. Sie setzen zudem leidliche Kenntnisse der französischen Sprache, viel Geduld, gute Augen, eine Lupe und etwas Phantasie sowie Übung beim Entziffern einer individuellen Schreibschrift voraus, was dem Verfasser bei nachstehendem Poststück bis auf wenige wohl unwichtige Einzelwörter gelungen ist:
Das nur 7,8 cm lange und 5,5 cm hohe Ballonbriefchen ist mit einer damals für das Standardporto von 20 Centimes verausgabten Marke der blauen „Napoléon III., tête laurée“ (Napoléon III. mit Lorbeerkranz) frankiert und am 28.10.1870, also erst knapp 6 Wochen nach Beginn der Belagerung, in Paris abgestempelt worden, wobei es sich um den sehr seltenen Armeepoststempel aus dem Generalstab (Armée Franҁaise Quartier Général) handelt. Der Brief ist an einen gewissen Georges Bertrand nach Troyes im Département Aube gerichtet und dort laut rückseitigem Ankunftsstempel am 3.12.1870 angekommen. Er wurde – wie man den Tabellen der Fachliteratur entnehmen kann – mit dem Ballon „Le Colonel Charras“ befördert, der am 29.10.1870 mit 450 kg Post, 6 Brieftauben und einem Piloten aufstieg und 250 km entfernt landete, und dann weiterbefördert. Ein junger Offizier namens Eugène schreibt seinem Freund Georges: „Ich weiß nicht, ob Du meinen letzten Brief lesen konntest, den ich mittels Ballonpost schickte. Ich versuche es ein zweites Mal und hoffe, dass Du ihn erhalten wirst.“ Nach einigen Erzählungen teilt er weiter mit: „Ich habe das Glück, seit einigen Tagen im Generalstab als Sekretär tätig zu sein, wo ich mich wohl fühle, denn es ist auch ein guter Schutz gegen die derzeitigen Temperaturschwankungen…. Ich spreche nicht über Politik oder militärische Dinge, dies aus gutem Grund… Ich verzweifle nie, Du erinnerst Dich doch an meinen Charakter, an unsere Spaziergänge auf dem Boulevard und unsere langen Diskussionen, unsere schönen Abende in den verschiedenen Theatern. Das alles existiert nicht mehr. Alle Theater sind ausnahmslos geschlossen, unsere Boulevards sind traurige Monster und die Straßen praktisch verlassen, keine Zivilisten, nur wehrfähige Soldaten. Es ist schwierig, annehmbar zu leben, alles ist sehr teuer und nicht gut.“ Eugène sehnt den Tag des Wiedersehens herbei und vertraut im übrigen auf Gott, ohne zu wissen, dass die Zustände in den nächsten Monaten in Paris noch viel schlimmer werden sollten. Nach Grüßen an namentlich genannte Freunde und Verwandte bittet er seinen Freund ihm zu schreiben: „Vielleicht kommt Dein Brief an.“ ( Übersetzung der Briefpassagen aus dem Französischen). Briefe gelangten aber während der Belagerung nur vereinzelt nach Paris. Ob sich unsere beiden Freunde Eugène und Georges wiedersahen, werden wir leider nie erfahren.