Die Antwort auf die Frage, was das australische Sydney und das bayrische Lindau gemeinsam haben, lässt sich auf den ersten Blick mit einem „nichts“ geben. Der Kontrast zwischen beiden Orten könnte kaum größer sein, ob heute oder ob im Jahre 1886: Die Weltstadt und Hauptstadt des Bundesstaates New South Wales Sydney zählt heute rund 5 Mio. Einwohner (1886: ca. 300.000), Lindau gerade einmal 25.000 (1886: rund 10.000). Lindau liegt am nordöstlichen Ufer des Bodensees, Sydney -aus Sicht des „alten Europas“- am Ende der Welt, eben „down under“. Doch eint der „Inselgedanke“ wohl beide Städte, denn Lindaus berühmte Altstadt liegt auf einer Insel, nur durch einen Bahndamm und eine Straßenbrücke mit dem Seeufer verbunden, im „Schwäbischen Meer“. Australien, das einen Kontinent bildet, ist vom Indischen Ozean und vom Pazifik umgeben. Doch gab es zwischen beiden Städten im Jahre 1886 zumindest e i n e Verbindung, und zwar in Form des folgenden Briefs, der seinerzeit von Sydney nach Lindau befördert wurde:
Der Umschlag (der einst eingelegte Brief ist nicht mehr vorhanden) ist mit 2 Exemplaren der 2 Pence blau, einer 6 P lila sowie einer 8 P gelb frankiert, die sämtlich Queen Victoria (24.5.1819- 22.1.1901; reg. seit 1837) zeigen und eine hübsche kontrastreiche Dreifarbenfrankatur darstellen. Die Marken sind mit 2 verschiedenen Stempeln entwertet, zum einen mit einem ovalförmigen Stempel „NSW“ (= New South Wales), zum anderen mit dem Ortsstempel „Sydney“ vom 26.10.1886, der seitlich links zusätzlich abgeschlagen ist. Unser Poststück ist an „Herrn Wilhelm Spaeth, Bayr. Hof, Lindau, Bodensee, Germany“ adressiert. Das Hotel „Bayerischer Hof“ existiert noch heute als „1. Haus am Platze“ und liegt auf der Altstadtinsel direkt am Bahnhof und am Seehafen mit Blick auf Lindaus Wahrzeichen „Löwe und Leuchtturm“, beide 1856 errichtet. Natürlich konnte der Brief von Sydney damals nur per Seepost nach Europa gelangen. Das konkrete Schiff hatte der Absender mit dem Vermerk „per SS. Orient“ vorgegeben (SS= Steamship). Über die „SS Orient“ wissen wir dank eines noch heute in einem Melbourner Museum ausgestellten Schiffsmodells gut Bescheid. Die „Orient“ wurde 1879 in Glasgow auf der Werft John Elder & Co. als Schraubendampfer mit zwei Schornsteinen und 4- Master mit Hilfsbesegelung für die Orient Steam Navigation Co. Ltd gebaut und besaß seit 1884 sogar elektrische Beleuchtung. Sie wurde auf der Route Southampton- Australien via Suez- Kanal und zurück eingesetzt. Diese Route nahm auch unser Brief, der gemäß rückseitigem Ankunftsstempel am 4.12.1886 in Lindau eintraf. Vielleicht hatte der Adressat als Hotelgast ein Zimmer mit Seeblick und sah beim Lesen des Briefs aus dem Fenster auf den Hafen. Möglicherweise gedachte er dabei auch des keine 6 Monate zuvor am 13.6. auf tragische Weise verstorbenen Königs, des „Märchenkönigs“ Ludwig II.